Jargon File: 35 Jahre Wörterbuch der Hacker
30. Dez. 2009, 14:15 | 0 KommentareVor 35 Jahren hat Raphael Finkel an der Universität Stanford das Jargon File angelegt. Diese Sammlung von Begriffen und Insiderwitzen aus der frühen Hacker-Szene war für die Netzkultur bis in die 90er Jahre hinein prägend. Heute droht das File in Vergessenheit zu geraten.
"Das Jargon File wurde (...) von Raphael Finkel 1975 an der Uni Stanford angelegt", heißt es lakonisch in der Einführung zum "New Hacker's Dictionary", das 1996 von Eric S. Raymond und Guy L. Steele als gedruckte Fassung der legendären Sammlung von Begriffen aus der Fachsprache der Hacker-Gemeinde herausgegeben wurde. Damit wird das Jargon File 2010 also 35 Jahre alt. Es prägte die Kultur des frühen Usenets und Internets entscheidend mit.
Raymond vermerkt in seiner Einführung, dass das File zum Zeitpunkt, als es angelegt wurde, bereits Begriffe enthielt, die aus den 1960er Jahren stammten - aus der Kultur des Tech Model Railroad Clubs am Massachusetts Institute of Technology (MIT), einer Keimzelle der Hacker-Kultur. Aus der Welt der frühen universitären Computerfreunde stammt auch das Jargon File, das unzählige Referenzen auf verschiedenste Rechenanlagen, Programmiersprachen und Science-Fiction-Bücher enthält.
Wie jede Fachsprache dient das Jargon File der präziseren und schnelleren Kommunikation unter den Eingeweihten - und gleichzeitig dazu, diese gegenüber anderen Gruppen abzugrenzen. So entstand neben der ursprünglichen Hacker-Kultur, die an Universitäten und IT-Forschungsabteilungen gepflegt wurde, in den 1980ern mit dem Aufkommen der ersten billigen Heimcomputer und Modems eine Parallelwelt der Mailbox-User, in der es nicht mehr so gelehrt und präzise zuging wie in den frühen Hacker-Kreisen. Das "New Hacker's Dictionary" trennt dann auch sauber zwischen den Hackern einerseits und den Crackern, Phreaks und Lamern und warez d00dz andererseits. Doch als diese vorläufig letzte gedruckte Fassung des Jargon Files erschien, waren die Hacker schon lange nicht mehr unter sich.
1995 gewährten die größten kommerziellen Online-Dienste der USA, AOL, CompuServe und Prodigy, ihren Nutzern Zugang zum Internet. Das bedeutete das Ende der alten, noch relativ homogenen Netzkultur, die im Jargon File dokumentiert ist. 1996, als die erste Ausgabe des "New Hacker's Dictionary" erschien, stellten Sabine Helmers und Jeanette Hofmann in einem Aufsatz für die Projektgruppe Kulturraum Internet des Wissenschaftszentrums Berlin fest, dass die "guten alten Zeiten" der egalitären Hacker-Community im Internet vorbei seien: "Ja, das alte Internet war partizipatorisch und demokratisch - aber auf eine Art, die eher der Demokratie im antiken Griechenland entsprach. Die traditionelle Internet-Gemeinde funktionierte ähnlich wie die griechischen Stadtstaaten, in denen nur die Bürger zählten und Fremde sowie Sklaven von den Bürgerrechten ausgeschlossen waren." Die Informationsgesellschaft der Zukunft sollte nicht mit Etiketten wie "Sklave" und "Fremder" oder eben "Luser" oder "Newbie" arbeiten.
Dass die Fronten zwischen jenen Menschen, die das Internet als Teil ihres Lebensraums begreifen, und jenen, die es nicht oder nur gelegentlich als Werkzeug nutzen, seither abgebaut worden wären, lässt sich leider nicht sagen. Statt mit "Lusern" oder "Newbies" muss sich die Netzgemeinde von 2009 mit "Internet-Ausdruckern" oder gar der leibhaftigen "Zensursula" auseinandersetzen.
Die Sprache der Trends
Auch das ebenfalls 1996 erschienene Buch "Wired Style", eine Anleitung für den korrekten Sprachgebrauch im seinerzeit führenden Pop-Technikmagazin der USA, weist nur wenige Referenzen auf das Jargon File auf. Das Werk kommt nicht einmal im Index vor, was darauf hinweist, dass es schon damals an integrativer Kraft eingebüßt hatte. Die Internet-Neuankömmlinge des Dotcom-Booms grenzten sich ihrerseits mit einem eigenen NASDAQ-PowerPoint-Slang von den Alt-Hackern ab. Wer den Business Angel beim Elevator Pitch von seinem neuen VRML-Projekt überzeugen konnte, durfte sich schon zu den Digerati zählen und mit über den Clipper Chip schimpfen.
Subtiler ging man seinerzeit mit der Sprache bei Suck um, der damals führenden Satirewebsite. Bei Autoren wie Joey Anuff und Carl Steadman steckte der Witz nicht nur in der Sprache selbst, sondern vor allem in den Links - eine Kunst, die im Zeitalter von Twitter, Tinyurls und Rickrolling leider in Vergessenheit geraten zu sein scheint. Vielleicht verträgt das Echtzeit-Netz keine Doppeldeutigkeit, Nachdenken über Ambivalenzen verlangsamt die Verarbeitungsgeschwindigkeit.
Langsames Verschwinden
Das Jargon File, das seit 1983 von Raymond und Steele betreut wird, wurde zuletzt im Dezember 2003 aktualisiert. Gegenüber Ress.at bestätigte Raymond im Dezember 2009, dass er noch der Verwalter des Files sei. Im Netz sind sechs Jahre eine sehr lange Zeit. Bei einem Test im Dezember 2009 fand Googles Websuche rund 1.150 Links auf das Jargon File auf Raymonds Website - inklusive einzelner Einträge; die Google-Blogsuche fand 2.000 Links, und die Suche in Google Groups, also im Usenet, gar nur 128 Referenzen. Den Begriff "Jargon File" fand die Google-Websuche 205.000-mal, die Suchfunktion von Twitter (die allerdings nur einige Tage zurückreicht) fünfmal (Google fand 43 Erwähnungen auf Twitter seit Juli 2009), auf dem Open-Source-Microblogging-Dienst identi.ca wurde Google siebenmal fündig. Das File ist nicht komplett in Vergessenheit geraten, aber besonders lebendig scheint die Erinnerung daran auch nicht mehr zu sein. Dafür sind viele Begriffe daraus, wie etwa "RTFM", mittlerweile derart alltäglich, dass man ihre Bedeutung nicht mehr nachzuschlagen braucht.
Das ist schade. Denn im Jargon File ist, neben den üblichen Scherzen, jene Haltung verschriftlicht, die das Internet und auch die freie Software groß gemacht haben - auch FSF-Gründer Richard Stallman arbeitete daran mit. Unter dem Begriff "Hacker Ethic" steht im File: "Die handfeste Verwirklichung jeder Spielart der Hacker-Ethik besteht darin, dass beinahe alle Hacker dazu bereit sind, technische Tricks, Software und (wo möglich) Rechenkapazitäten mit anderen Hackern zu teilen. Große kooperative Netzwerke wie das Usenet, das FidoNet und das Internet können aufgrund dieses Wesenszugs ohne zentrale Kontrolle funktionieren, er gründet sich auf einen Gemeinschaftssinn, welcher der möglicherweise wertvollste immaterielle Besitz der Hacker ist, und verstärkt diesen zugleich."
Bilder statt Text
Die Sprachkreativität der heutigen Netzbewohner findet derzeit keinen Eingang mehr ins Jargon File. Vielleicht entschließt sich Raymond eines Tages dazu, es erneut zu aktualisieren. Ob dann allerdings die Memes, die die Sprache im Netz von heute prägen, zu den alten Begriffen passen, sei dahingestellt. Dazu kommt, dass die Codes und In-Jokes, über die sich heute Gruppen wie die User von Communitys wie 4chan und b3ta identifizieren, nicht mehr unbedingt aus Text bestehen, sondern auch aus Bildelementen und Videos. Das nächste Jargon File wird also singen und tanzen lernen müssen.
Quelle: Jargon File: 35 Jahre Wörterbuch der Hacker
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